- Teotihuacán: Stadt der Götter
- Teotihuacán: Stadt der GötterIn den letzten zwei Jahrtausenden vor der Zeitenwende war das Hochtal von Mexiko nur eine Region unter vielen in Mesoamerika, deren Bevölkerung nach dem Übergang zu sesshafter Lebensweise lokale Spielarten der formativen Dorfkulturen hervorbrachten. Die Vielzahl weiblicher Tonfigürchen dürfte auf die Bedeutung von Fruchtbarkeitsvorstellungen für diese frühen Bodenbauer hinweisen. Mit den Olmeken verband das Hochtal der Obsidianhandel, bis die Leute von La Venta eine näher gelegene Quelle fanden und die Beziehungen abbrachen. Um die Zeitenwende entstanden im Hochtal mehrere neue Zeremonialzentren, unter denen Cuicuilco mit etwa 20 000 Einwohnern und einer runden Stufenpyramide von 118 m Durchmesser das größte war.Der kleine Ort Teotihuacán im Nordosten des Hochtals war dagegen von eher geringer Bedeutung. Als es aber im Süden der Region verstärkt zu Vulkanausbrüchen kam und Cuicuilco gar durch einen Ausbruch des Xitli zerstört wurde, floh die Bevölkerung nach Norden und trug so zum raschen Wachstum Teotihuacáns bei. Die Stadt wuchs um den von langer Hand geplanten zentralen Zeremonialbezirk, in dem sich auf Stufenpyramiden stehende Tempel beiderseits der 2 km langen »Straße der Toten« aufreihten. An deren Nordende erhebt sich über einem quadratischen Vorplatz die 42 m hohe »Mondpyramide«, an der Ostseite die über einer alten heiligen Höhle errichtete »Sonnenpyramide«, die mit 63 m Höhe und einer Million Kubikmeter Rauminhalt eines der größten Bauwerke Mesoamerikas war. Anders als die aztekischen Bezeichnungen vermuten lassen, waren die heute verschwundenen Tempel auf den zwei Pyramiden den beiden Hauptgottheiten Teotihuacáns gewidmet: dem Sturm- oder Regengott und der »Großen Göttin«. Ein Tempel der »Federschlange« inmitten eines eingefriedeten Bezirks südlich der »Sonnenpyramide« entstand im späten 2. Jahrhundert n. Chr. und verband die Verehrung des später als Quetzalcoatl bekannten Gottes mit der des Regengottes. Die Tatsache, dass diese prächtig verzierte Pyramide schon wenig später durch einen Neubau weitgehend verdeckt wurde, lässt auf den Widerstreit unterschiedlicher ideologischer Strömungen schließen; vielleicht ist sie auch ein Indiz für den misslungenen Versuch einer Dynastiegründung.Die zentrale Stellung der »Großen Göttin« im Pantheon von Teotihuacán findet nirgendwo in Mesoamerika eine Entsprechung. Man vermutet, dass diese Wasser- und Fruchtbarkeitsgöttin ein schon vor dem Aufstieg der Stadt in den örtlichen Höhlen verehrtes Wesen war. Ihre Raubtierkrallen und die menschlichen Herzen, die sie in ihrem Kopfputz trägt, sind deutliche Hinweise auf ihre Verbindung zu Menschenopfern.Ab dem 3. und 4. Jahrhundert entstanden gemauerte Wohnbauten und ein neues Verwaltungszentrum entlang der Hauptachse der Stadt. Die zu Beginn noch wenig beeindruckende Kunst erreichte in den folgenden Jahrhunderten in den Wandmalereien der Tempel und Paläste, aber auch in der Steinskulptur und im Keramikdekor ihren Höhepunkt. Schrift und Kalenderwesen waren offenbar vorhanden, wenn auch im Vergleich zu jenen anderer Kulturen derselben Zeit anscheinend nur schwach entwickelt. Zwischen 125 000 und 200 000 Einwohner zählte Teotihuacán um das Jahr 600 n. Chr., wodurch es zu den größten Städten gehört, die jemals im alten Amerika existiert haben, und zu seiner Zeit die sechstgrößte Stadt der Welt war. Die Grundlage für diesen Aufschwung schuf das von der Stadt ausgehende Handelsnetz, das von New Mexico im Norden bis zum Hochland von Guatemala im Süden reichte. Entlang seiner Pfade verbreiteten sich aber auch religiöse Ideen und zivilisatorische Errungenschaften. Als Mittelpunkt des Netzes profitierte Teotihuacán auch vom Zustrom spezialisierter Handwerker aus anderen Teilen des Landes, die in eigenen Stadtvierteln lebten und arbeiteten.Der Mangel an Inschriften erschwert das Verständnis dieser Schlüsselkultur Mesoamerikas in klassischer Zeit - allerdings entnimmt man diesem Mangel, dass die herrschende Oberschicht für den in anderen Regionen üblichen Personenkult nichts übrig hatte. Auch die Wohnbauten und Grabstätten zeigen keine krasse Bevorzugung einer Dynastie gegenüber dem Rest der Oberschicht. Früher hat man, trotz klarer Hinweise auf die Bedeutung des Kriegertums, die Herrscher Teotihuacáns als friedliebende und dem Gottesdienst ergebene Priesterschaften darzustellen versucht. Heute spricht man ersatzweise von »kollektiver Führung«.Man weiß bis jetzt nicht, welche Sprache die Bevölkerung von Teotihuacán gesprochen hat. Einiges deutet auf das später an der Golfküste gesprochene Totonakische, zumal die nach dem Niedergang von Teotihuacán aufblühende Totonake-Stadt El Tajín von Teotihuacán beeinflusst zu sein scheint. Dieser Niedergang ereignete sich zwischen 650 und 750 n. Chr. und hatte augenscheinlich innere Ursachen, die möglicherweise mit der langsamen Austrocknung dieses Teiles des Hochtals von Mexiko ihren Anfang nahmen. Die wütende Zerstörung der zeremoniellen Bauwerke entlang der Hauptstraße zeigt, dass man den Herrschenden (und vielleicht auch den hinter ihnen stehenden Göttern) die Schuld an der Krise gab. Die relativ rasche Abwanderung der Wohnbevölkerung machte Teotihuacán zur Geisterstadt und verunsicherte ganz Mesoamerika. Einerseits funktionierte das lange eingespielte System des Fernhandels nicht mehr so wie gewohnt, andererseits brachte das Eindringen neuer Völker aus dem Norden mit dem Ende der Klassik eine Zeit intensiverer militärischer Konflikte. Außer in El Tajín finden sich auch in Cholula im mexikanischen Staat Puebla, dessen Hauptpyramide die »Sonnenpyramide« an Grundfäche und Volumen noch übertraf, und in der Bergfestung Xochicalco im Staat Morelos Spuren der Diaspora von Teotihuacán.Den Azteken war diese zu ihrer Zeit längst verlassene Stadt wohl bekannt. Wie alle, die diesen Ruinen gegenüberstehen, erfüllte auch sie die Betrachtung der sichtbaren Anzeichen einstiger Größe mit einem heiligen Schauer, und sie waren davon überzeugt, diese Stadt sei ein Werk der Götter gewesen. Die Azteken prägten auch die heutige Bezeichnung »Teotihuacán«, das heißt so viel wie »Ort der Götter« oder genauer: »der Ort derer, die die Straße der Götter besitzen.«Prof. Dr. Christian F. FeestAlcina Franch, José: Die Kunst des alten Amerika. Aus dem Französischen. Freiburg im Breisgau u. a. 21982.Die Indianer. Kulturen und Geschichte, Band 2: Münzel, Mark: Mittel- und Südamerika. Von Yucatán bis Feuerland. München 51992.Lavallée, Danièle und Lumbrerars, Luis Guillermo: Die Andenvölker. Von den frühen Kulturen bis zu den Inka. Aus dem Französischen und Spanischen. München 1986.
Universal-Lexikon. 2012.